Meine Tante Maria Rippel, geb. Lehner („Lenschl Marila“)

Eine Geschichte, die im 1.Weltkrieg begann

Im Jahr 1914 eroberten Einheiten der russischen Zarenarmee das Gebiet um Kolomea. Sie richteten in Mariahilf und Rosenheck schwere Schäden an. Viele Häuser wurden niedergebrannt. Johann Kolmer („Pfutsch“) und zwei Mitglieder aus der Lehner-Familie („Pegerl“) wurden getötet. Im Herbst wurden die Russen von den Verbänden der österreischischen Armee wieder vertrieben.

Im Mai 1915 griffen die Kosaken entlang der Kaiserstraße erneut an. Unsere deutschen Vorfahren wollten mit den zurückweichenden kaiserlichen Truppen in die Karpaten fliehen.

In Mariahilf lag Petronella Lehner in den Wehen; die Fruchtblase war bereits geplatzt. Die Hebamme schickte einen Boten nach Rosenheck zu ihrem Vater Titus Kolmer. Ihr Ehemann Ferdinand Lehner („Lenschl“) war bereits als Soldat an der Front.

„Leidla, Leidla foarts ned weg, s’Wossa is scho broacha!“ schrie der Bote ihrem Vater Titus zu. Der erfahrene Kolmer lenkte das schon beladene Fluchtgespann durch den Bach nach Mariahilf hinüber. Auf dem Wagen befand sich auch sein 12-jähriger Sohn Ignatz („Titus Nazi“). Unter Kanonendonner erreichten sie den Lehnerhof am Mariahilfer Friedhof. Die kleine Maria war gerade geboren. Schnell wurde die erschöpfte Mutter mit dem Neugeborenen auf ein Bündel Stroh gebettet. Mit der Nachhut der Österreicher floh man in die nahen Karpatenberge. Im ersten größeren Ort, Jablonow, wurde noch schnell die Taufe abgehalten. Patin war die „Hoglin“. Einen Monat später konnten die Flüchtlinge wieder nach Mariahilf zurückkehren.

1916 stürmten die Russen im Rahmen der Brussilow-Offensive erneut vor. Diesmal flohen unsere Leute Richtung Westen. In der Nähe von Stryj traf man auf den Bischof Zöckler, der veranlasste, dass Frauen mit kleinen Kindern ins innere Österreich gebracht wurden.

Auf dem Bild ist Petronella Lehner mit dem erstgeborenen Sohn Sebastian und der kleinen Maria, die man später immer nur noch „Marila“ nannte, zu sehen. Das Foto wurde 1917 in Haag am Hausruck in Oberösterreich aufgenommen.

Im Jahre 2004 besuchte ich mit meiner Tante „Marila“ die kleine Stadt Jablonow in Galizien. „Hier hat man mich vor 89 Jahren getauft“, flüsterte sie mir andächtig zu. „Ich war immer sehr klein und man dachte ich überlebe das nicht.“ Und verschmitzt lächelnd fügte sie noch hinzu: “Aber du siehst - ich lebe immer noch. Das Leben ist doch auch so wunderschön!“

Im Januar 2012 ist sie mit fast 97 Jahren gestorben. Im Dorfe Zitzschen bei Leipzig wurde sie begraben, hier lebte und arbeitete sie seit 1945. Sie hinterlässt 2 Kinder, 6 Enkel, 11 Urenkel und ein Ur-Ur-Enkel.

Dein Neffe Günter Hönig